Strukturwandel für Innenstadt und Fußgängerzone ist unausweichlich
● Aktuell rund 70 Leerstände
● Mietniveau ist zu hoch
Leerstände, Räumungsverkäufe, Tattoo-Studios, Shisha-Bars, Barbershops und Asia-Imbisse, Billigläden, Bettler, Obdachlose, Waffenverbotszonen und nächtliche Angsträume – Braunschweigs Innenstadt ist unverkennbar in einen Abwärtsstrudel geraten. Sie hat ihren identitätsstiftenden Charakter und ihren Nimbus von der Einkaufsstadt Nr. 1 in Niedersachsen verloren. Ein Bummel, wie er früher bis in die 2010-er Jahre für viele fester Bestandteil des Wochenendprogramms war, ist heute ein getrübtes, oft mit Ärgernissen verbundenes Vergnügen. Gleichwohl ist das Bemühen der Stadt offenkundig, insbesondere in der Fußgängerzone für Sauberkeit zu sorgen. Außerdem wurden neuralgische Ecken für Verschmutzungen aller Art vorübergehend mit Holz vernagelt. Das unterstreicht aber auch das ganze Dilemma.
Damit steht Braunschweig selbstverständlich nicht allein da, überall gibt es in Großstädten Sorge um die Innenstädte. Aber aufgrund der Größe der Fußgängerzone sind die Probleme hier noch größer als in kleineren. Nötig sind hier wie dort neue Konzepte. In Braunschweig wurden sie teilweise für Horten-Bau, Karstadt-Einrichtungshaus und Burgpassage in Angriff genommen, sind aber noch nicht richtig in Schwung gekommen. Ein Anfang ist gemacht, mehr nicht.
Leerstand und Identitätsverlust
Mit diesen Leerständen ist bereits sehr viel Handelsfläche vom Markt gegangen. Dazu kommt noch der ehemalige, bereits umgewidmete Welfenhof, und dennoch gibt es ungebremst Geschäftsaufgaben. Besonders schmerzlich ist dabei der Wegfall inhabergeführter Traditionsgeschäfte, die eine besondere Qualität der Innenstadt ausmachten, wie der Herrenausstatter Carlson am Ziegenmarkt oder Koithan für Damenoberbekleidung am Kohlmarkt. Selbst Ketten geben ihr Engagement in Braunschweigs Innenstadt wegen sinkender Umsätze und negativer Prognosen auf. Rund 70 Einzelhandelsflächen stehen aktuell leer. Ersatz wird es in Gänze nicht mehr geben, auch wenn die Stadt den Handelsexperten Thomas Heckh (Hamburg) zur Unterstützung bei der Suche engagiert hat.
Die Gründe für den Aderlass sind vielschichtig. Einer ist „König Kunde“ selbst, der oft E‑Commerce dem stationären Einzelhandel vorzieht. Ein für andere Händler ermutigendes Signal geht von der Buchhandlung Graff am Sack mit liebevoll gestaltetem Laden, einem sehr guten Warenangebot und eigenem Versand aus. Auch stationärer Einzelhandel kann noch erfolgreich sein. Es gibt weitere Beispiele wie das Modehaus Summersby, die Schreibwarenhandlung Weiß, die Galerie Jaeschke oder den Hey-Store am Ziegenmarkt. Auf gutem Weg ist die Stadt mit der Gastronomie auf dem Kohlmarkt und in der Neuen Straße.
Ein Hauptgrund für Leerstände sind die erhobenen, horrenden Mieten für Erdgeschosslagen, die in den 2000-er Jahren wohl noch zu erwirtschaften waren, heute aber viele Ladeninhaber überfordern und zur Aufgabe zwingen. Niedrigere Mietpreise würden natürlich helfen, inhabergeführte Geschäfte zu halten oder neu zu gewinnen. Aber so einfach wird das nicht, denn 70 Prozent der 1a-Lagen in Braunschweig sind Anlageobjekte von Fonds oder größeren Gesellschaften. Und für die sind Mieten sehr sensibel, weil sie in der Bilanz Indikator für den Wert von Immobilien sind. Reduzierte Mieten = Wertverlust. Deswegen ist Fonds und größeren Gesellschaften Leerstand auf absehbare Zeit egal. Anders sieht das bei Privateigentümern aus, aber auch da fehlt oft noch die Einsicht, dass es besser wäre, die Miete zu senken und den Mieter nicht zu verlieren – fürs eigene Konto und für die Innenstadt grundsätzlich.

Keine Einladung an das Umland
Politik gegen das Auto gefährdet die Rolle als Oberzentrum
● Gute Ansätze stocken
● Zum Gelingen verdammt
Der Strukturwandel wird in den Innenstädten nur gelingen, wenn alle sich als Mannschaftsspieler verstehen, sagt Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik, Bereich Stadtentwicklung, Recht und Soziales. Damit meint sie natürlich auch die Kommunen. Braunschweigs Innenstadt lebt zu großen Teilen von Kunden und Gästen aus dem Umland. Für sie ist die Erreichbarkeit mit dem Auto von großer Wichtigkeit. Politik, die das Auto aber verbannen will, Parkplätze am Straßenrand fortwährend reduziert, Entgeltzonen fürs Parken immer weiter ausweitet und die Parkgebühren erhöht, gefährdet Braunschweigs Rolle als Oberzentrum, weil sie Gäste und Kunden nicht nur für den Einzelhandel, sondern eben auch für Theater, Kino, Museen, Gastronomie und mehr vergrault. Außer Acht lässt solche Politik auch den demografischen Wandel hin zu einer immer älter werdenden Gesellschaft. Aus dem Östlichen Ringgebiet kann man sehr wohl mit dem Fahrrad kommen oder aus der Weststadt mit dem Öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), aber eben nicht aus Frellstedt, Börßum oder Isenbüttel.
Wege aus der Krise: Konzepte und Hoffnungsträger
Der Deutsche Städtetag sieht für die Innenstadt der Zukunft eine Vernetzungsfunktion, die weit über das Einkaufen hinausgeht. Neue Innenstadtentwicklungskonzepte sollten daher verstärkt auf die unterschiedlichen Funktionen aus Wohnen, Dienstleistungen, Kultur, Bildung und Tourismus ausgerichtet sein. Themen wie Gesundheit, Aufenthaltsqualität, Digitalisierung, Sauberkeit und Sicherheit seien dabei besonders zu beachten.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Vorhaben der Volksbank BRAWO mit dem ehemaligen Horten-Gebäude. Geplant ist dort ein Durchgang zum Magniviertel mit Handel links und rechts davon, in den Obergeschossen Wohnungen, Büros und Arztpraxen sowie eine bessere Aufenthaltsqualität im Umfeld. Im ersten Quartal sollte bereits ein Gestaltungswettbewerb abgeschlossen sein, aber Stadt und Volksbank BRAWO konnten sich noch nicht auf Details einigen.
Die Stiftshöfe in der alten Burgpassage stocken, nachdem zwei Investoren insolvent gingen und ein Rechtsstreit anhängig war. Die Stadt kaufte das Areal notgedrungen mit wirtschaftlichem Risiko. Weil für das geplante Hotel und die geplanten hochpreisigen Wohnungen so gut wie keine Stellplätze vorhanden sein werden, wird die Vermarktung eine schwer zu bewältigende Herausforderung. Auch beim vorgesehenen Haus der Musik im ehemaligen Karstadt-Einrichtungshaus ist noch nichts klar. Immerhin soll es bei allen drei Projekten, wenn auch verspätet, vorangehen.
Wenn es gelingen sollte, diese Projekte zu realisieren und erfolgreich zu gestalten, würde sich die so bedeutende Fußgängerfrequenz in der Fußgängerzone fast zwangsläufig erhöhen. Davon werden insbesondere Handel und Gastronomie profitieren. Nicht auszumalen, wenn der unausweichliche Strukturwandel misslingen sollte und die Innenstadt immer mehr zu einer Geisterstadt würde.
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