Alle Verkehrsarten finden ihre Lobby, nur Fußgänger nicht
● Plädoyer für den Bürgersteig
● Freies Gehen mit offenen Sinnen
Gastbeitrag von Prof. Walter Ackers
Wir alle wollen uns wohlfühlen. In unserem Zuhause. In unserem Stadtteil. In unserem Braunschweig. Immer wieder gibt es hierzu Vorschläge. Neue Wünsche. Ideen. Planungen. Es wird gebaut. Umgebaut. Instand gesetzt.
Braunschweigs Straßen sind seit Jahren zunehmend voller rot-weißer Absperrungen. Neue Radwege, Haltestellen, Verkehrsführungen. Alles dient der Idee einer reibungslosen Stadt. Fundiert mit Zahlen, Dimensionen, Vorschriften – deklariert als Notwendigkeiten und Argumente für den Verstand.
Unser Kopf ist aber mehr als ein Rechenzentrum. Unsere Sinne geben sich nicht zufrieden mit Argumenten, wenn wir uns in unseren Straßen und Räumen einfach unwohl fühlen. Starken Lärm und Geruch, Kälte und Wind, einsame und zugige Orte – nichts für unser Gemüt und Wohlbefinden. Gefahr meiden wir. Wir lieben städtische Räume, die wir durch ihre Atmosphäre und Gestaltung schön und anregend empfinden. Orte, die uns menschliche Begegnung anbieten.
Bürgersteige als unterschätztes Verkehrsnetz
Die wichtigste städtische Verkehrsart, die jedem Menschen Sichtbarkeit verleiht und unsere gesellschaftliche Vielfalt erlebbar macht, ist deshalb das freie Gehen mit offenen Sinnen. Das wertvollste Verkehrsnetz, das die Stadt sozial zusammenhält, ist deshalb der banale Bürgersteig – mit ausreichender Breite, nicht von Autos zugestellt oder von Fahrrädern missbraucht, atmosphärisch aufgewertet durch begleitende Baumzeilen und damit Schutz bietend, vor allem bei Straßen mit starkem Autoverkehr.
Öffentliche Räume werden weniger zu Orten der Begegnung, sondern eher der Gegnerschaft.
Doch ausgerechnet dieses Netz wird weiter beeinträchtigt und Fußgänger werden noch mehr an den Rand gedrängt.
Warum? Alle anderen Verkehrsarten finden ihre Lobby und jeweilige politische Vertretung, nur die Fußgänger nicht. Während die CDU sich traditionell für das Auto und die SPD für Bus und Stadtbahn stark gemacht haben, verfolgen die Grünen vorrangig den Ausbau der Straßen für den Radverkehr. Aber sind Amsterdam und Kopenhagen wirklich geeignete Vorbilder für Braunschweig? Vielleicht sollten wir dann auch deren Bußgeldkatalog übernehmen mit zum Beispiel 95 Euro für Radfahren auf dem Gehweg oder nächtlich ohne Beleuchtung wie dort in Dänemark und Holland.
Was bewirkt dieser weiterhin verkehrsorientierte Stadtumbau für ÖPNV und Fahrrad real?
Verkehrsplanung zwischen Rechthaberei und Begegnung
Zwangsläufig wird der begrenzte Raum noch strikter in Territorien aufgeteilt und der gesamte Verkehr noch stärker durchgeregelt. Rücksichtnahme und gegenseitige Aufmerksamkeit sind damit immer weniger erforderlich. Fahrbahnmarkierungen verdeutlichen Rechtsansprüche, die in der Folge zur Rechthaberei führen. Rücksicht oder gar Freundlichkeit werden durch Signalanlagen außer Kraft gesetzt. Öffentliche Räume werden damit immer weniger zu Orten der Begegnung, sondern eher der Gegnerschaft. Und die Fußgänger werden für viele zu einer vernachlässigbaren Größe am Rande.
Doch was macht dieses gebaute alltägliche Erziehungsprogramm zur Rücksichtslosigkeit mit uns? Wie fühlen wir uns als unbewehrter Mensch, aufrecht gehend zwischen beschleunigten Verkehrsmitteln aller Art? Wir können uns gutwillig das Ziel verkehrlicher Maßnahmen erklären. Aber unsere Sinne sagen uns im Erleben dieser Räume etwas anderes. Wir fühlen uns in allgemeiner Hektik, atmosphärischer Kälte und gestalterischer Beliebigkeit unwohl. Eine latente Aggressivität wird zur Grundstimmung.
Fühlen wir die Stadt. Überlassen wir deren Gestaltung nicht ausschließlich einer einseitigen Sachargumentation für einen reibungslosen Verkehr. Bedenken wir die Folgen für unseren Lebensraum Straße. Das Minimum sind gesicherte Bürgersteige, auf die vor allem Kinder und Alte zwingend angewiesen sind.
Aber auch Geschäfte und Gastronomie profitieren und bereichern das Stadtleben vor der Tür mit ihrem Angebot. Bürgersteige sind eine kulturelle Errungenschaft und erfüllen soziale, wirtschaftliche und ästhetische Aufgaben. Sie sind ein Angebot an unsere Sinne, solange wir diese noch beieinanderhaben.
Fühlbare Stadt: Mehr Sinnlichkeit statt nur Effizienz
Wenn wir unsere Umwelt mit Gefühl als angenehm erleben, werden wir auch eher Mitgefühl für unsere Umwelt empfinden können. Offenheit, Toleranz und Freundlichkeit werden uns in den Mitmenschen entgegenkommen.
Geben wir deshalb vor allem dem Fußgänger im gesamten Straßennetz gebührenden Raum, der in Gestaltung und Atmosphäre unser Gefühl ansprechen kann. Schönheit und Poesie sprechen unsere Sinne an und bleiben immer ein Anspruch unseres Fühlens und unserer Kultur.

Prof. Walter Ackers lebt in Braunschweig und leitete von 1990 – 2010 das Institut für Städtebau und Landschaftsplanung der TU BS. Er ist seit 1979 als freier Architekt und Stadtplaner tätig, heute in der Büropartnerschaft „Ackers Morese Städtebau“. Schwerpunkte sind weiterhin Stadtentwicklung, Bauleitplanung und Stadtgestaltung mit dem Fokus Öffentlicher Raum.