Die Wahrheit jenseits von 95 Prozent

Braunschweigs identitätstiftendes Zentrum: der Burgplatz. Foto: Andreas Greiner-Napp
Braunschweigs identitätstiftendes Zentrum: der Burgplatz. Foto: Andreas Greiner-Napp

Ein Blick ins Kleingedruckte der Bürgerumfrage zu den Lebensbedingungen in Braunschweig offenbart vielfach Handlungsbedarf

Die Stadt­ver­wal­tung feiert aktuell das Ergebnis der ersten „umfas­senden Bürger­um­frage zur Einschät­zung und Bewertung der Lebens­be­din­gungen in Braun­schweig“ aus dem Jahr 2023. Danach sind 95 Prozent aller Bürger zufrieden, in Braun­schweig zu leben. Das ist sehr erfreu­lich, aber es sind zwei Aspekte zu berück­sich­tigen, die wichtig sind im Umgang mit der Auswer­tung. Erstens ist die Befragung bereits mehr als 27 Monate alt. Seitdem hat sich eine Menge, nicht zum Positiven, getan in Braun­schweig. Zweitens müssen die Resultate diffe­ren­ziert und nicht pauschal betrachtet werden. Das fördert dann, neben selbst­ver­ständ­lich vielem Guten in Braun­schweig, auch Bemer­kens­wertes zutage, über das sich Stadt­ver­wal­tung und Kommu­nal­po­litik Gedanken machen sollten. Darauf hat sich „Braun­schweig im Focus“ in diesem Beitrag konzen­triert.

Zu alt für ein realistisches Bild

Mittels einer Zufalls­stich­probe aus dem Einwoh­ner­mel­de­re­gister waren für das Stimmungs­bild 15.000 Personen ab 16 Jahren mit Haupt­wohn­sitz in Braun­schweig zur Teilnahme aufge­rufen. Bis zum Ende des Erhebungs­zeit­raums am 30. Juni 2023 wurden 4.925 verwert­bare Frage­bögen zurück­ge­sandt. Die Bürger­be­fra­gung ist demnach nicht reprä­sen­tativ und zu lange her, als dass sie ein belast­bares Bild der Zufrie­den­heit der Bürger zum jetzigen Zeitpunkt zeichnen könnte.

Mittler­weile werden die horrende Verschul­dung der Stadt, die geplanten Luxus­pro­jekte, das Geschäf­testerben in der Innen­stadt, die umstrit­tenen Velorouten oder das Baustel­len­chaos auf den Straßen heiß disku­tiert. Das alles war damals noch nicht virulent. Das verkün­dete Ergebnis entspricht also nicht mehr der Realität.

Begrenzt familienfreundlich

Dennoch zu den Resul­taten: Eine zentrale Voraus­set­zung für die positive Wahrneh­mung einer Stadt durch ihre Bürger ist die Famili­en­freund­lich­keit. Die Kommu­nal­po­litik der nächsten Jahre sollte darauf den Fokus legen, denn nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent) sah Braun­schweig als famili­en­freund­liche Stadt an. Ein Grund dafür war offenbar fehlender bezahl­barer Wohnraum. Diese Tatsache sahen 36,3 Prozent als drängendstes Problem der Stadt an. Mit den Schulen waren nur 26,7 Prozent zufrieden, mit den Kinder­ta­ges­stätten nur 17,5 Prozent. Und der gerade für Schüler und Studenten wichtige Zustand der bestehenden Radwege wurde mit nur 31 Prozent Zufrie­den­heit schlecht bewertet. Die Instand­set­zung sollte demnach Priorität gegenüber den ideolo­gie­ge­trie­benen Velorouten genießen.

Das Attribut „senio­ren­freund­lich“ mochten nur 34 Prozent der Stadt zuschreiben. Mangel­hafte ärztliche Versor­gung in der Stadt dürfte gerade älteren Menschen Sorgen bereiten. Mehr als jeder Vierte sah darin ein großes Problem der Stadt.

Verbesserungen möglich

Um sich in einer Stadt wohlzu­fühlen, sind Sauber­keit und Sicher­heit heraus­ra­gende Punkte. Verbes­se­rungen sind in beiden Bereichen möglich. Mehr als jeder Dritte (38,1 Prozent) äußerte Kritik an der Sauber­keit in Braun­schweig, in der Weststadt sogar mehr als jeder Zweite (51,4 Prozent). Nur eine knappe Mehrheit von 58,9 Prozent der Befragten war mit der Sauber­keit auf den öffent­li­chen Flächen in Braun­schweig insgesamt zufrieden. Seither hat sich die Situation jedoch weiter verschlech­tert, weil die für diesen Bereich instal­lierte Beschäf­ti­gungs­för­de­rung der Volks­hoch­schul-Tochter „Arbeit und Beruf GmbH“ für Personen ohne Arbeit ersatzlos gestri­chen wurde. Sie wieder aufleben zu lassen, wäre ein guter Schritt.

Beim Thema Sicher­heit spielt vor allem der Einbruch der Dunkel­heit eine wesent­liche Rolle. Rund zwei Drittel (61 Prozent) fühlten sich dann in Parks und Grünan­lagen unsicher, mehr als die Hälfte in Parkhäu­sern und Tiefga­ragen (54 Prozent) sowie mehr als jeder Dritte in der Innen­stadt. Mit inten­si­vierter Video­über­wa­chung oder mehr Kompe­tenzen für den städti­schen Ordnungs­dienst und stärkerer Präsenz ließe sich vieler­orts ein ausge­wo­ge­neres Sicher­heits­ge­fühl der Bürger ermög­li­chen.

Unzufrieden mit der Innenstadt

Nur noch 69,4 Prozent zeigten sich mit der inner­städ­ti­sche Einkaufs­si­tua­tion zufrieden. Der Anteil der ausdrück­lich unzufrie­denen war mit 26,8 Prozent der zweit­höchste Wert unter allen 28 abgefragten Infra­struk­turen, Dienst­leis­tungen und Angeboten. Nur für 40 Prozent wirkte Braun­schweig modern, nur für 35 Prozent großstäd­tisch.

Durch die seither verstärkt auftre­tenden Geschäfts­schlie­ßungen dürfte sich die Beurtei­lung der Innen­stadt weiter negativ gestaltet haben. Dazu wird auch die verschlech­terte Verkehrs­si­tua­tion mit den vielen paral­lel­lau­fenden und teilweise erheblich behin­dernden Straßen­bau­maß­nahmen beitragen. Vor zwei Jahren waren noch 80 Prozent mit der Erreich­bar­keit der City zufrieden. Die Unzufrie­den­heit hat durch die Baustellen Hagen­markt, Theodor-Heuss-Straße, Bültenweg und Helmstedter Straße deutlich zugenommen, wie zum Beispiel aus Reaktionen zu unseren Beiträgen hervor­geht. Mit der Parkplatz­si­tua­tion in Braun­schweig war schon 2023 mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Befragten unzufrieden. Seither sind weitere Parkplätze wegge­fallen.

Kritischer Blick ins Rathaus

Und auch bei der Beurtei­lung der Stadt­ver­wal­tung lohnt ein Blick ins Klein­ge­druckte. Was sofort ins Auge fällt, ist die schlechte Bewertung in Sachen Finanzen. Nur 23 Prozent attes­tierten der Stadt­ver­wal­tung, dass sie „finan­ziell verant­wor­tungs­voll“ handele. Dabei war im Juni 2023 von Milli­ar­den­schulden noch nicht die Rede. Dass die Stadt­ver­wal­tung „trans­pa­rent im Handeln“ sei, meinten nur 29 Prozent. Nicht einmal die Hälfte der Befragten (26,3 Prozent) sah die Stadt­ver­wal­tung als „bürgernah“ an. Es gibt also jede Menge zu tun jenseits der verlaut­barten Freude.

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