„Reine Lehre“ geht an den Bedürfnissen nach Identifikation vorbei
● Architekturdiskurs politisch aufgeladen
● Stadtbild als weicher Standortfaktor
von Elmar Arnhold
Im Zuge der in den vergangenen Jahren vertieften Polarisierung zwischen den politischen Lagern gerieten auch Architektur, Städtebau und eben Rekonstruktionen wie die des Braunschweiger Residenzschlosses in das Mahlwerk scharfer Auseinandersetzungen. So entfachte der Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt-Forum – immerhin ein Bundestagsbeschluss von 2002 – heftigen Streit zwischen bürgerlich-konservativen und linksliberalen Positionen. Wesentlicher Grund dafür ist die (nicht vom Parlament beschlossene) Rekonstruktion der Kapellen-Kuppel mit bekrönendem Kreuz sowie dort angebrachten Bibel-Zitaten. Das Argument der Gegner lautet, dass christliche Symbole auf einem öffentlichen Profanbau nicht vereinbar seien mit einer multikulturellen Gesellschaft.
Einen weiteren Höhepunkt der Auseinandersetzungen löste das „Dom-Römer-Projekt“ in Frankfurt am Main aus. Ein Anstoß für dieses Projekt kam 2005 von den dortigen Freien Wählern – und dem Politologen Claus Wolfschlag, der als Protagonist der „Neuen Rechten“ eingeordnet wird. Es entstanden 15 Rekonstruktionen gut dokumentierter Bürgerhäuser. Gegner nicht nur dieses Projekts sehen vielfach rechts-konservative Tendenzen als Hintergrund für bauliche Rekonstruktionen. Anstelle eines modernen und sozialen Städtebaus wolle man nach ihrer Auffassung eine von historischen Brüchen ungetrübte und konsum-kompatible Scheinwelt erschaffen.
Zu einer Abrechnung mit Rekonstruktionen und traditionellen Städteplanungen geriet eine Sonderausgabe der Architekturzeitschrift arch+ mit Beiträgen zahlreicher Autoren aus ganz Europa. Sie trägt den Titel „Rechte Räume“ und zeigt nicht nur Beispiele für Rekonstruktionen auf. Vielmehr werden konservative Architekturströmungen insgesamt kritisch betrachtet und mit baulichen Zeugnissen faschistischer Regime in Europa vermengt. Fazit dieser Schrift ist eine grundsätzliche Ablehnung mit einer an regionalen oder nationalen Tradition orientierten Architektur und Stadtbaukunst.
Ist es angemessen, auch Fragen zu Architektur und Städtebau in diesem Maße politisch aufzuladen? Die Diskussion um Rekonstruktionen wird in Deutschland auch in Zukunft anhalten. Und dies ist zunächst positiv zu betrachten. Es wird über Architektur gesprochen und über Geschichte, über den Grund für den Verlust eines Denkmals. Problematisch erscheint jedoch, die Bedürfnisse der Menschen nach Identifikation und kultureller Verankerung nach den Maßstäben der Political Correctness und moralisch zu bewerten – und damit zur viel beklagten Spaltung der Gesellschaft beizutragen.
Definitionen: Renovieren, Restaurieren, Rekonstruieren
Im Umgang mit historischen Bau- und Kunstwerken wird zwischen Renovieren, Konservieren, Restaurieren und Rekonstruieren unterschieden. Eine Renovierung ist eine kaum in die Substanz eingreifende Maßnahme. Ähnlich gelagert ist eine Konservierung, die einen vorhandenen Zustand erhält. Bei einer Restaurierung können beschädigte oder fehlende Bestandteile ergänzt werden. Rekonstruktion schließlich bedeutet Wiederherstellung ganzer Gebäudeteile und auch vollständiger Bauwerke nach überlieferten Bauteilen, Planunterlagen oder Abbildungen – so wie bei der Fassade des Braunschweiger Residenzschlosses.
Der berühmte Kunsthistoriker Georg Dehio (1859–1932) – einer der Begründer der modernen Denkmalpflege und Initiator des Handbuchs der deutschen Kunstdenkmäler – formulierte den vielzitierten Grundsatz: „Konservieren – nicht restaurieren“. Dies ist aus den Zeitumständen sehr gut verständlich. Aber selbst er ließ bereits Ausnahmen gelten. So tolerierte er die nach einem Brand im Jahr 1906 erfolgte Wiederherstellung der Michaelis-Kirche (Hamburg) mit ihrem stadtbildprägenden Turm – dem „Michel“.
Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts brach über viele Städte eine dramatische Zerstörung herein – womit die von Dehio formulierten Grundsätze ins Wanken geraten mussten. Während der grausamen Stellungskämpfe im Ersten Weltkrieg versanken in Nordfrankreich und Flandern ganze Städte vollständig in Schutt und Asche, so Ypern mit den berühmten Tuchhallen. Ohne Bedenken wurden die Stadtkunstwerke bis in die 1960er-Jahre wiederaufgebaut.

Autogerechter Wiederaufbau forderte Tribut
Im durch das nationalsozialistische Deutsche Reich entfesselten Zweiten Weltkrieg führte der Luftkrieg zur systematischen Zerstörung ganzer Städtelandschaften. Der uneingeschränkte Luftbrandkrieg gegen zivile Ziele mit den Feuerstürmen von Hamburg und Dresden, aber auch von Kassel und Braunschweig, forderte nicht nur mindestens 400.000 Todesopfer, er war auch ein Anschlag auf ein Kulturerbe der gesamten Menschheit, ein Urbizid. Im Wiederaufbau der zerstörten Stadtkerne kam der Erschließung für den Individualverkehr große Bedeutung zu. Ein seinerzeit als fortschrittlich angesehener „autogerechter“ Wiederaufbau war für Städte wie Hannover, Kassel und Stuttgart, aber durchaus auch für Braunschweig zu verzeichnen. In den so neugestalteten Städten wurden jedoch deutlich mehr wiederherstellbare Baudenkmäler beseitigt als in eher „konservativ“ aufgebauten Stadtkernen wie in Nürnberg, Freiburg oder Münster.
Die Rekonstruktion vollständig zerstörter Baudenkmäler blieb vorerst jedoch eine absolute Ausnahme. Zu den wenigen früh wiederaufgebauten Fachwerkhäusern gehört das Goethehaus in Frankfurt am Main. Um diesen kulturhistorischen Symbolbau entbrannte die erste heftige Debatte über die Frage der Legitimation einer Rekonstruktion im Nachkriegsdeutschland. Gegner des schließlich 1947–1951 realisierten Vorhabens argumentierten mit dem selbst verschuldeten und somit zu akzeptierenden Verlust dieser Stätte.
In den 1970er-Jahren waren die Stadtzentren zumindest in Westdeutschland wieder weitgehend neu bebaut, auch wenn Baulücken und Brachflächen weiterhin an die Vergangenheit erinnerten. Wobei der Bezug zur Vergangenheit vieler Städte, spätestens seit den 1960er-Jahren vielfach endgültig aufgegeben wurde. Der Wiederaufbau hinterließ – mit Ausnahmen – eine auswechselbare Städtelandschaft, in der lediglich Traditionsinseln wie in Braunschweig über den weitgehenden Verlust an Identifikation hinwegtäuschten.
Erhalt versus Anspruch: Substanz & Symbolik
Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 markiert einen Wendepunkt. Es dokumentiert einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, den Raubbau an baulichem Erbe zu beenden. Eine Reaktion war der Wunsch, gänzlich verlorene Bauwerke mit Wahrzeichencharakter in die Stadtbilder zurückzuholen. Die in den 1980er-Jahren begonnene Welle von Rekonstruktionen erfasste unter anderem auch Braunschweig mit dem Wiederaufbau der Alten Waage.
Sämtliche Rekonstruktionsvorhaben waren (und sind) von den bereits angeführten Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Der 1960 erfolgte Abbruch der aufbaufähigen Ruine des Braunschweiger Schlosses ist ein in Westdeutschland bedauerlicher Einzelfall. Die 2007 abgeschlossene Rekonstruktion der Schlossfassaden war ein Politikum, in dem sich wiederum bürgerlich-konservative (pro) und linksliberale Kreise (contra) gegenüberstanden.
Das Schloss wurde von Kritikern nicht nur als Symbol der einstigen Monarchie abgelehnt, sondern auch aufgrund seiner missbräuchlichen Nutzung durch die SS in der Zeit des Nationalsozialismus. Hinzu kam als Argument gegen diese Teilrekonstruktion die Verquickung des Schlossbaukörpers mit dem Einkaufszentrum.
Fest steht, dass die in Anlehnung an ihre ursprüngliche Gestalt wiederaufgebauten Städte – die schon in den 1950er-Jahren von der progressiven Architektenschaft dafür heftig kritisiert wurden – heute hoch im Kurs stehen.
Zum Schluss sei noch anzumerken, dass bei allen Bemühungen zur Bewahrung historischer Stadtbilder die Erhaltung und sinnvolle Nutzung der originalen Denkmalsubstanz im Vordergrund stehen muss.
Elmar Arnhold ist Architekturhistoriker und Autor diverser Sachbücher.











